Tja, Leute, wie es scheint haben wir alle irgendwie die Arktisschmelze aus den Augen verloren und unterschätzt. Warum? Weil mittlerweile die Rede ist von einem sog. "Blue Ocean Event" (BOE).
Was ist das? Wenn die Arktis, sprich die Meereseis-Ausdehnung soweit schrumpft, dass es eine eisfreie Arktis im Sommer gibt, dann ist nur noch der blaue (aus dem Weltall sogar schwarze) Ozean zu sehen. Als "eisfrei" definiert man die Ausdehnung an Meereseis, die 1 Mio. Quadratkilometer unterschreitet. Dabei werden nur Gebiete einbezogen, die mind. 15% Meereseisanteil aufweisen.
Während man die üblichen inflationären Unterschätzungen bis vor kurzem betrieb und eine eisfreie Arktis "bis 2100" erwartete, ging es dann runter bis 2050 und nun ... Überraschung ... 2020. Was so schwierig daran ist, klimatische Kipppunkte und polare Amplifikation zu berücksichtigen und statt in falsche Modelle mal in das eigene Gehirnschmalz zu investieren, erschließt sich mir nicht, aber das ist halt die Zeit in der wir leben ...
Darstellung des Verlaufs der arktischen Meereisausdehnung nach https://nsidc.org/arcticseaicenews/. Die kritische Grenze von 1 Mio. Quadratkilometern habe ich rot eingezeichnet. Ein BOE wird somit bereits in diesem Jahr möglich, wenn auch unwahrscheinlich und nur unter extremsten Bedingungen. In den nächsten 3 Jahren wird es aber wohl so weit sein. Die eisfreie Zeit wird sich dann sukzessive immer weiter ausdehnen vom Tiefpunkt am 15. September in beide Richtungen, vor allem rückwärts Richtung Sommer.
Was sind die Folgen? Der Worst Case wird so dargestellt, dass die eisfreie Arktis einem gigantischen Kippelement gleichkommt. Vor allem für unsere Nordhemisphäre logischerweise. Grundlegend für den Kipppunkt ist die Albedo, die Rückstrahlung der Sonnenstrahlen. Meereis und Eis und Schnee generell hat eine Albedo von ca. 90-95%, also wird fast alle Sonnenenergie zurückgeworfen. Dieser Kühleffekt wird nicht nur negiert im Blue Ocean Event, sondern ersetzt durch ein 0%-Albedo-Szenario: Eben der dunkle Ozean. Dieser schluckt sämtliche Sonnenenergie und heizt sich massiv auf. Folge: Blitzschmelze der Arktis, Beschleunigung des BOE, absolutes Wetterchaos auf der gesamten Nordhemisphäre, damit auch Permafrostschmelze im Küstenbereich und in Sibirien mit Freisetzung von Millarden Tonnen Methan und CO2. Eine Apokalypse global könnte dann innerhalb von 5-20 Jahren erfolgen durch die Blitzaufheizung und den Fall der meisten Kipppunkte.
Ich bin zunächst davon ausgegangen, dass diese Theorie extrem ist und nicht realistisch. Dummerweise stehen dahinter Leute wie der seriöse Klimatologie Paul Beckwidth und der Oxford-Professor Peter Wadhams, ein Spezialist für arktisches Meereseis mit 40 Jahren Felderfahrung.
Eine Seite, die tendentiell zwar "alarmistisch" ist und nicht allein von Wissenschaftlern betrieben wird, beschreibt umfassender, wenn auch auf typisch infantil-amerikanische Art das BOE in seiner extremen Interpretation: http://www.scientistswarning.org/wiki/blue-ocean-event/
Kritik Mit einiger Mühe habe ich dann eine Seite gefunden, die die Folgen nicht als den Fall von Kipppunkten wie Dominosteine beschreibt, was zu der besagten Apokalypse im Zeitraffer führt, sondern eine eher abgeschwächte Variante: https://climatetippingpoints.info/2019/0...te-catastrophe/ Überhaupt drehen sich alle Interpretationen der Zukunft darum, ob es einen linearen Verlauf geben wird oder einen durch Kipppunkte hervorgerufenen exponentiellen Verlauf. Da es nie zuvor eine solche Blitzemission von Treibhausgasen in der Geschichte der Erde gegeben hat, weiß niemand, was realistischer sein wird. Von der reinen Logik her wäre ein exponentieller Verlauf daher sogar logischer.
Aber auch das kritisch hinterfragt: Es müsste durch die eisfreie Arktis hinsichtlich der Ozeanaufheizung und damit auch der Luftströmungsänderungen (Ozean und Atmosphäre bilden einen gemeinsamen Faktor!) eine kritische Schwelle überschritten werden, die nicht unbedingt mit dem Horrorwort "BOE" zusammenhängt. Warum? Der Schwund des Meereises und der Verlust der Albedo erfolgt ja bereits seit Jahrzehnten in linearer Weise und wirkt sich bereits aus. Eine weitere Abschwächung würde also auch nur lineare Folgen haben, es sei denn es würde ein kritischer Punkt erreicht, der das gesamte System kollabieren lässt. Und genau das kann derzeit kein einziger Wissenschaftler auf diesem Planeten beantworten. Wiederum berunruhigend ist, dass die kollabierenden Faktoren bereits bei Wikipedia haarklein aufgelistet sind und einen guten Überblick über die bereits ablaufenden Folgen und mögliche zukünftige geben: https://en.wikipedia.org/wiki/Climate_change_in_the_Arctic
Sei's drum. Sollte die kritische Seite recht haben und das Blue Ocean Event, die eisfreie Arktis auf der Nordhemisphäre, hätte nur geringe Auswirkung, dann betrüge die Steigerung der globalen Mitteltemperatur 0,2 Grad Celsius. Was zwar keine Apokalypse wäre, aber kein geringer Schub der Klimakatastrophe.
Fazit: Wir täten als Einzelne mit einer Einsicht in die Vorgänge gut daran, den Verlauf des arktischen Meereises gut im Blick zu halten in Verbindung mit den Daten, was die Folgen betrifft, sprich die CO2- und vor allem die Methankurve.|addpics|hwr-fl-bc78.jpg-invaddpicsinvv|/addpics|
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Zu dem Thema gehört als Nachtrag auch noch, dass die bisherigen Klimamodelle inflationär zu niedrig in ihren Prognosen waren und nun mit zig Jahren Verspätung die Erkenntnis diesbezüglich einsetzt. Natürlich immer noch mit integrierten Verharmlosungen, wie ich meine:
Selbst wenn wir vom "besten" Fall, also der minimalen Erwärmung der Arktis durch den BOE um 0.2 Grad ausgehen, könnte das auch den Beaufort Wirbel in der Arktis beeinflussen: Bekanntlich bildet sich innerhalb dieses Wirbels eine leichte und kalte Wasserlinse an der Oberfläche und deckt somit das wärmere Wasser darunter ab.
Es stellt sich nun die Frage ob selbst mit der "minimalen" Erwärmung durch den BOE diese kalte Oberflächenschicht soweit erwärmt werden könnte, so dass sich die kalte Süsswasserlinse in den Nordatlantik entleeren würde. Damit käme das darunterliegende warme Wasser an die Oberfläche und würde die arktische Verstärkung zusätzlich beschleunigen. Also ein weiterer positiver Feedbackeffekt.
Durch die abnehmenden Pol-Äquator-Unterschiede der Temperatur schwächt sich ja bekanntlich auch der Jetstream während der Sommerzirkulation ab und somit tritt immer häufiger das resonante Wellenmuster der 5er/6er Rossbywellen auf die für Mitteleuropa extrem ungünstig zu liegen kommen. Wäre es theoretisch auch möglich, dass sich durch eine noch stärkere Abschwächung des Jetstreams im Worst Case ein Muster mit z.B. 8er Wellen einstellen würde? Klar, irgendwann wäre die Länge der planetaren Wellen begrenzt aufgrund der Grösse der Tiefs und Hochs aber das wäre noch spannend zu wissen. Google gibt da nicht besonders viel her.
In deinem Link von sciencemag.org ist noch das interessante Zitat ("Is that realistic or not? At this point, we don’t know.") von R Knutti, dem Klimaprofessor der ETH Zürich, den ich eigentlich hoch einschätze. Im Schweizer Fernsehen gab es im November 2017 eine Sondersendung zum Klimawandel an der er auch als Experte teilnahm. Irgendwann kam die Diskussion auf den Punkt wieviel Zeit wir noch haben um die 1.5 oder 2 Grad globale Erwärmung noch zu verhindern. Er meinte dann dass die Prognosen eine solche Erwärmung erst um ca. 2100 im Programm haben und wir bis dahin noch etwas Zeit hätten. Ich glaubte ich höre da nicht richtig...
Ca. 18 Monate später sieht es also schon anders an. Die neueste Generation der Klimamodelle geht bei einer Verdopplung des CO2 plötzlich nicht mehr von ca. 2-4.5 Grad aus sondern mehrheitlich von über 5 Grad. Wie du schon mehrmals geschrieben hast - und dieser Meinung bin ich auch - sind die Kipp-Punkte und Feedback-Mechanismen zu ungenügend verstanden und in den Modellen erfasst so dass wir in Zukunft wahrscheinlich noch häufiger überrascht werden. Zum Beispiel hat J Cohen anfangs Jahr ja auch mal bemerkt dass die Schneedeckenverteilung in den Klimamodellen nur ungenügend wiedergegeben wird und das ist wahrscheinlich nur einer von vielen Punkten.
Dies sind vom Standpunkt der Erkenntnisgewinnung extrem spannende Zeiten aber ich wünschte dass ich dies nicht mehr live miterleben müsste.
Sehr interessant mit der Wasserlinse, das hatte ich noch nicht auf dem Schirm. Danke für die Info!
Grundsätzlich gehe ich von Veränderungen an sich aus der früher stabilen Systeme, also kann es natürlich auch zu einer Entleerung der Linse kommen. Wie realistisch konkret dieser Fall ist, das können wohl nur Fachspezialisten beantworten.
Der Jetstream steht im Zentrum der Veränderungen. Bereits jetzt sehen wir ja die Zerfaserung des Jetstream von Grönland östlich und wir in der gradientenschwachen Zone in Hitze und ohne Wind was klimatologisch in allerhöchstem Maße bedenklich ist, vor allem weil der Jetstream in seiner Zerfaserung völlig irre über Nordafrika (südliche Zerfaserung) und den Pol (nördliche Zerfaserung) läuft. Ein Blue Ocean Event würde den Kältepol von der Arktis auf dem eigentlichen Pol Richtung Grönland als einiger großer Eismasse verschieben. Das würde zu weiteren Anomalien des Jetstream führen. Ein ganz weiter Blick in eine fernere Zukunft sieht dann sogar das Verschwinden des Jetstreams durch fehlende Gradienten (Arktis und mittlere Breiten gleich warm durch massive Aufheizung der eisfreien Arktis). Dann würden die Wettersysteme durch Monsunbänder bestimmt. Auch die thermohaline Zirkulation könnte komplett ausfallen und die Ozeane sich in Todeszonen verwandeln.
Es ist nach wie vor die Frage ob sich alles bis 2100 verzögert. Die Wahrscheinlichkeit und der Stand der Entwicklung stellt sich nach meiner Meinung so dar, dass nicht die Temperaturen aber die Annäherung an die Kipppunkte sich beschleunigen. Wenn diese fallen, wird das Klimasystem kollabieren, egal ob 2025 in der extremen Theorie, ob bis 2030, 2040 oder 2050. Da kaum ein Wissenschaftler diese in den Modellen berücksichtigt als eine Form von Dominoeffekt sondern wenn überhaupt die Annäherung an Kipppunkte linear berechnet (was eigentlich Blödsinn ist), halte ich die Annahme, wir hätten bis 2100 Zeit für eine gefährliche Unterschätzung der Entwicklung.
Ich wünschte auch dass ich diesen Irrsinn nicht als Zeitzeuge begleiten müsste denn wie ich schon sagte: Ich bin ein Freund einer todlangweiligen, stabilen Welt mit dann auch (mehr oder weniger) stabilen Gesellschaften. Aus einer rein wissenschaftlichen Sicht ist es natürlich spannend und vielleicht ist es sogar aus einer übergeordneten Sicht die einzige Möglichkeit die Menschheit im Überlebenskampf zu einen und dadurch einen riesigen Schritt vorwärts zu machen in unserer Evolution. Aber da dies nicht ohne viele, viele Opfer gehen wird, ist das letztlich eine tragische und bittere Entwicklung.
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Jup, die Steigerungsrate in Grönland ist ca. 30 Gigatonnen (Milliarden Tonnen) pro Jahr. Die jährliche Gesamtschmelzrate Grönland liegt bei weit über 300 Mrd. Tonnen pro Jahr. https://en.wikipedia.org/wiki/Climate_ch...nland_Ice_Sheet
Dennoch würde es Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende dauern, bis Grönland mehr oder weniger eisfrei würde. Nimmt man jedoch Kipppunkte wie den Jetstream und ein BOE dazu könnte sich durch Luftströmungsänderungen und ozeanische Erwärmung eine Blitzschmelze ereignen. Muss man beobachten.
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Was den Beaufort-Wirbel angeht, war mir nach dem Artikel nicht klar, wie es sein kann, dass sich die Süßwasser (Kaltwasser)-Linse über drei- bis viertausend Kilometer in den Atlantik ergießen kann, dass der Golfstrom mehr oder weniger unterbrochen wird. Das Bild und der dazugehörige Artikel hier machen das aber sehr gut deutlich: https://www.meereisportal.de/meereiswiss...s/meereisdrift/
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Danke für die klare Visualisierung des Beaufort-Wirbels. Gemäss dem Spektrum-Artikel fand ein solches Ereignis ja schon mal in den 70er Jahren statt sodass der Salzgehalt im Nordatlantik spürbar sank.
Wir bewegen uns ja mittlerweile klimatechnisch mit grossen Schritten zurück in ein anderes geologisches Zeitalter, das Pliozän (an das Eozän möchte ich nicht mal denken):
Angesichts der kürzlich nach oben korrigierten Temperaturprognosen der neuesten Klimamodell-Generation ist das nicht unwahrscheinlich. Egal welcher Kipppunkt zuerst fällt - die Auswirkungen solcher gigantischer Umwälzungen im globalen Ozean/Klimasystem werden Themen ob ein Brexit nun geordnet oder ungeordnet abläuft definitiv in die Rubrik "Klatsch und Tratsch" drängen.
Noch ist es nicht soweit und ich hoffe immer noch auf irgendeine Art von Lucky Punch der alles noch hinauszögert. Aber die Richtung scheint mir klar vorgegeben.
Ja, die Zeitrafferversetzung der Menschheit in Zeiten die hunderttausende bis Millionen Jahre zurückliegen machen jedem Angst, der weiß, was das bedeutet. Zu Recht. Bisher hat jede Klimaveränderung, die hunderttausende Jahre dauert, zu einem Massensterben geführt. Was bei der aktuellen Klimaänderung, die stärker als diese ist und innerhalb unfassbarer 200 Jahren erfolgt, passieren wird, dürfte klar und völlig logisch sein. Sie wird alles hinwegfegen. Stephen Hawking hat sicher nicht ohne Grund von der Venus gesprochen. Mehr als Fatalismus kann ich auch nicht bieten in der derzeitigen Situation. Wenn die stabilisierenden Säulen wegbrechen, dann wird es zumindest für uns keine Überraschung sein, sondern nur für all jene Idioten da draußen, die sich selbst belügend oder alles verdrängend lieber dem Bestaunen ihrer Stoffwechselprozesse hingeben als einer Effizienzsteigerung ihres wahrlichen Primatengehirns ^^
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Zitat von Eisgott der Verkünder im Beitrag #9Ja, die Zeitrafferversetzung der Menschheit in Zeiten die hunderttausende bis Millionen Jahre zurückliegen machen jedem Angst, der weiß, was das bedeutet. Zu Recht. Bisher hat jede Klimaveränderung, die hunderttausende Jahre dauert, zu einem Massensterben geführt. Was bei der aktuellen Klimaänderung, die stärker als diese ist und innerhalb unfassbarer 200 Jahren erfolgt, passieren wird, dürfte klar und völlig logisch sein. Sie wird alles hinwegfegen. Stephen Hawking hat sicher nicht ohne Grund von der Venus gesprochen. Mehr als Fatalismus kann ich auch nicht bieten in der derzeitigen Situation. Wenn die stabilisierenden Säulen wegbrechen, dann wird es zumindest für uns keine Überraschung sein, sondern nur für all jene Idioten da draußen, die sich selbst belügend oder alles verdrängend lieber dem Bestaunen ihrer Stoffwechselprozesse hingeben als einer Effizienzsteigerung ihres wahrlichen Primatengehirns ^^
Auch wenn die Aussichten langfristig gesehen deprimierend und beschissen sind beenden wir diesen Tag mit deinem letzten Satz über die Idioten der sich zu 100% bewahrheitet